25.09.2020
Mieterverein rechnet mit der Heidelberger Wohnungspolitik ab. Kritik an Verwaltung und OB.
Zehn Redner und Rednerinnen hatten der Leiter des Mietervereins, Christoph Nestor (5.v.l.) und der Vereinsvorsitzende Lothar Binding (5.v.r.) in die Halle 02 zur Bilanz der städtischen Wohnungspolitik eingeladen. Die meisten zeichneten dabei ein düsteres Bild der Lage. Foto: Alex
Von Sebastian Riemer
Heidelberg. Beim Mieterverein ist es gute Tradition, nach der Jahreshauptversammlung die Bürgerschaft zu einer Veranstaltung einzuladen. Dieses Mal war eine Bilanz der städtischen Wohnungspolitik angekündigt. Was die rund 70 Anwesenden am Mittwoch in der Halle 02 dann zu hören bekamen, glich einer Abrechnung: Von zehn Gastrednerinnen und -rednern zeichneten sieben in Kurzvorträgen ein düsteres Bild der Wohnungsnot in Heidelberg – und forderten eine aktivere, sozialere Wohnungspolitik vom Gemeinderat. Die RNZ gibt einen Überblick des Abends, der vom Mietervereins-Vorsitzenden, dem SPD-Bundestagsabgeordneten Lothar Binding, moderiert wurde.
Wie es mit dem Einwohnerantrag zur Wohnungspolitik weitergeht: Zum Auftakt forderte der Leiter des Mietervereins, Christoph Nestor, in einer scharfzüngigen Rede eine neue, andere Wohnungspolitik in Heidelberg: "Nur blind fanatische Neoliberale glauben noch daran, dass renditeorientierte Wohnungsmarktakteure den Schaden, den sie jahrzehntelang angerichtet haben, selbst beheben könnten." Stattdessen müsse man am Gemeinwohl orientierten Bauträgern Vorrang einräumen. Das ist auch die zentrale Forderung des von Nestor mitinitiierten Einwohnerantrags zur Wohnungspolitik, den 2000 Heidelberger unterschrieben haben. Über diesen wird im Herbst im Gemeinderat weiter beraten.
Nestor kritisiert, dass die Stadtverwaltung versuche, den Einwohnerantrag ins Leere laufen zu lassen: "Wir werden den Oberbürgermeister fragen, ob er eine seriöse Verhandlungsunterlage dazu erstellen wird." Denn diese gibt es nach Nestors Ansicht bislang nicht. Als der Einwohnerantrag im Juli erstmals kurz im Gemeinderat behandelt wurde, hatte die Verwaltung in einer knappen Vorlage fast alle Forderungen daraus als "rechtlich nicht möglich" oder "nicht umsetzbar" bezeichnet – begründet mit jeweils einem Satz. So scheitere die Forderung aus dem Antrag, bei neuen Bauprojekten stets das existierende Modell für das Mark-Twain-Village (MTV) – mit 40 Prozent geförderten Mietwohnungen und 30 Prozent geförderten Eigentumswohnungen – anzuwenden, angeblich daran, dass eine solche "Festsetzung im Bebauungsplan unzulässig" sei. Dabei braucht es dafür gar keine Bebauungspläne – zumindest bei Grundstücken in städtischer Hand: In MTV mussten sich alle Bauträger dem vom Gemeinderat per Grundsatzbeschluss festgelegten Modell unterordnen.
"Wenn dieser Oberbürgermeister damit angibt, dass MTV das größte bundesdeutsche Sozialwohnungsprojekt sein soll, kann er doch zustimmen, dass wir für Patrick-Henry-Village diesen Maßstab anwenden", sagte Nestor. Er wünsche sich, dass der oder die nächste OB nach der Wahl 2023 mit der neuen Wohnungspolitik angebe, nach dem Motto: "Das haben meine Bürger initiiert und das setze ich um." Zudem fordert Nestor, dass der Einwohnerantrag auch in den Bezirksbeiräten behandelt wird.
Wie groß die Not der Sozialen in dieser Stadt ist: Verzweifelt und ernüchtert: So wirkten Redner der sozialen Einrichtungen und Initiativen, die sich um die Schwächsten in der Gesellschaft kümmern – jene, die am Heidelberger Wohnungsmarkt gar keine Chance haben. "Wir sind auf eine aktivere Wohnungspolitik angewiesen", sagte etwa Klaus Bowe von Obdach e.V. – der Verein bietet Wohnungslosen ein Dach über dem Kopf, samt Sicherheit und Struktur. Aktuell leben 84 Menschen in 36 Wohnungen, die der Verein besitzt oder anmietet. "Die Nachfrage ist viel höher", so Bowe.
Das gleiche Problem hat Gerd Schaufelberger von der Jugendagentur, die sich um benachteiligte Jugendliche am Übergang von Schule zu Beruf kümmert: "Die einzigen Wohnungen, die wir in Heidelberg haben, sind von der städtischen Wohnungsbaugesellschaft GGH." Das dürfe nicht sein. "Wir unterstützen den Einwohnerantrag, weil es eine Sozialquote geben muss bei allen Bauprojekten."
Dramatisch ist die Lage auch beim Frauenhaus. "Wir müssen Frauen abweisen, die Schutz suchen vor Gewalt, weil wir keinen Platz haben", sagte Kathrin Himmelmann. Das Frauenhaus werde zunehmend zum "Wohnraumersatz": "Die Frauen bleiben viel länger bei uns als nötig, weil sie keine bezahlbare Wohnung finden." Dieses Problem kennt auch Matthias Meder, Leiter der SKM-Wohnungslosenhilfe: "Das Soziale-Hilfe-System wird durch die Wohnungsnot in Heidelberg verstopft." Viele Menschen blieben aus Mangel an Alternativen in Notwohnungen stecken, obwohl sie längst eigenständig leben könnten.
Stefanie Burke-Hähner von der Awo führte noch einen weiteren Aspekt des Problems an: "Wir verlieren Mitarbeiter, die in den Odenwald ziehen, weil sie in Heidelberg keine bezahlbare Wohnung finden."
Die Mathematik des Immobilienentwicklers: Eine ganz andere Note brachte der Heidelberger Immobilienentwickler Andreas Epple in die Debatte ein – seine arithmetische Kernthese: "Eine große Menge passt nicht in eine kleine Menge." Strikt mathematisch gesehen, so Epple, sei nun einmal Fakt: "Im besonders attraktiven Heidelberg wollen mehr Menschen wohnen als hier wohnen können. Dass ein Teil keine Wohnung bekommt, ist also mathematisch zwingend – aber gleichwohl ungerecht."
Ändere man das "Selektionskriterium", so Epple, sei das Grundproblem nicht gelöst. Auch wenn nicht mehr der Geldbeutel, sondern andere Kriterien darüber entscheiden würden, wer in Heidelberg eine Wohnung findet, bliebe die generelle Ungerechtigkeit. Angesichts der zwingenden mathematischen Logik hilft laut Epple nur eines: "Mehr bauen!" Als Stadt müsse man daher zwei Fragen politisch beantworten: "Wie viele Menschen sind in Heidelberg erwünscht? Und: Wo soll zusätzlicher Wohnraum entstehen?" Man könne in die Breite – etwa auf Felder – bauen, in die Höhe oder in der Region, "wofür man natürlich den ÖPNV stärken müsste". Aber egal, was man tue, am Ende bleibe der unumstößliche, mathematische Fakt: "Eine große Menge passt nicht in eine kleine Menge."
Was die städtische Wohnungsbaugesellschaft zu alldem sagt: GGH-Chef Peter Bresinski legte eine Kurzanalyse vor, warum die Immobilienpreise ständig steigen – das liege nicht allein an renditeorientierten Firmen, sondern auch am Drang in die Städte, der Zinsentwicklung, steigenden Baukosten und mehr Rechtsvorschriften. Und es gebe ja "auch in Heidelberg Wohnungen für 5,50 Euro pro Quadratmeter, etwa auf dem Boxberg – aber eben nicht in jedem Stadtteil."
Das Problem sei komplex, nicht alles, was als Lösung präsentiert werde, funktioniere so einfach. Beispiel Wien, oft als "Hauptstadt bezahlbaren Wohnens" bezeichnet: "Wien gibt jährlich 600 Millionen Euro Subventionen in den Wohnungsmarkt. Auf Heidelberg umgerechnet sind das 50 Millionen Euro." Das, so Bresinski, müsse man sich erst einmal leisten.
Rhein- Neckar Zeitung am 25.09.2020.
link zum online Artikel: https://www.rnz.de/nachrichten/heidelberg_artikel,-kritik-an-verwaltung-und-ob-mieterverein-rechnet-mit-der-heidelberger-wohnungspolitik-ab-_arid,554634.html